Volles Haus bei "Wir müssen reden"
„Es ist viel zu tun – und wir müssen sofort damit anfangen.“
„Es ist viel zu tun – und wir müssen sofort damit anfangen.“ Darin waren sich alle Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion „WIR MÜSSEN REDEN über das Pflege-Entwicklungsland Deutschland“ einig. Nur so könne verhindert werden, dass sich die angespannte und krisenhafte Lage der Altenpflege nicht langfristig in eine vollständige Katastrophe verwandelt. 70 Interessierte waren der Einladung des AWO Kreisverbandes Bremerhaven in Kooperation mit der Arbeitnehmerkammer Bremen ins Capitol gefolgt. Sie erlebten einen spannenden und informativen Abend. „Wir haben ein Thema gewählt, das viele interessiert und bewegt“, sagte AWO Vorstandsvorsitzender Dr. Uwe Lissau in seiner Begrüßung.
„Die Hälfte von uns wird im Alter pflegebedürftig“, verdeutlichte Moderator Eckart Kroon, Geschäftsführer der Unternehmensgruppe AWO Bremerhaven, die Brisanz des Themas für alle. Und weder die aktuelle Situation noch die Zukunftsaussichten stimmen zuversichtlich: Viele Anbieter sind vor den Kostensteigerungen in die Knie gegangen und mussten Insolvenz anmelden; es fehlen immer mehr Plätze für Tages-, Kurzzeit- und Langzeitpflege. Entgelt-Verhandlungen mit den Kostenträgern dauern zu lange, die Zahlungen von Sozialämtern kommen oft verzögert – vor allem kleinen Unternehmen können diese Finanzierungslücken nicht auffangen.
Die Lage ist prekär: Die Menschen werden älter und für lange Zeit pflegebedürftig, die sogenannten „Baby-Boomer“ aus den geburtenstarken Jahrgängen 1946 bis 1964 gehen in Rente und wollen versorgt sein. „Aktuell gibt es ca 5 Millionen Pflegebedürftige; bis 2060 werden es 7,5 Millionen sein“, prognostiziert Diplom Gerontologe Thomas Kalwitzki von der Universität Bremen. Der Bedarf an Pflegekräften wird nach seinen Worten massiv steigen: „Um 150.000 Vollzeitstellen allein in dieser Dekade – Tendenz bis 2060 weiter steigend auf 400.000.“
Ein „Parforce-Ritt von Pflegeform zu Pflegereform“ zeige – so Kalwitzki in seinem Einführungsvortrag – dass die Politik seit Jahrzehnten den Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur hinterherhinke, ohne nachhaltige Verbesserungen zu erzielen. „Die 1995 eingeführte Pflegeversicherung erfüllt schon lange ihre Grundsatzfunktion nicht mehr – nämlich die Menschen im Alter davor zu bewahren, Sozialhilfe beantragen zu müssen.“ Die Eigenanteile, die Pflegebedürftige für ihre stationäre Vollzeitpflege aufbringen müssen, liegen im Land Bremen im Durchschnitt bei 2.300 Euro: „Und dabei hat die Pflegeversicherung durch ihre festgelegten Sätze ein relativ geringes Kostenrisiko, die zu Pflegenden dagegen ein sehr hohes.“
Die Pflegeforscher und Gesundheitsökonomen am SOCIUM der Uni Bremen haben unter Leitung von Prof. Dr. Heinz Rothgang ein zukunftsweisendes Modell entwickelt, die sogenannte „Sockel-Spitze-Umkehr“. Danach müssten Pflegebedürftige nur einen Festbetrag zahlen und den Rest übernimmt die Pflegeversicherung. Kalwitzki zu den Zuhörer*innen: „Bei ihrer gesetzlichen Krankenversicherung liegt das Risiko ja auch nicht bei Ihnen.“ Aus welchen Säulen und wie genau dann die Pflegeversicherung gespeist werde, sei eine andere Frage. Stichworte seien eine Bürgerversicherung oder eine Pflegevollversicherung. „Darüber muss man reden - politisch“, sagte der Wissenschaftler.
Petra Sklorz, AWO-Pflege-Geschäftsführerin in Bremen, schilderte die immensen Alltagsherausforderungen in der Praxis: die Personalknappheit, hohe Kosten für Leiharbeiter*innen, um akute Engpässe abzufangen, die Hürden in der Ausbildung (nicht anerkannte oder wegen Flucht nicht nachweisbare ausländische Abschlüsse), Sprachprobleme, hohe Investitionskosten für die stationären Einrichtungen – auch wegen gesetzlicher Vorgaben – („Bei der Barrierefreiheit geht es manchmal um Millimeter“). Um das Personal zu halten und zu gewinnen, müssten alle Register bezogen werden: Attraktive Arbeitszeitmodelle wie eine 4-Tage-Woche, Zulagen fürs Einspringen, Benefits, Social-Media-Präsenzen ... „Wir haben tolle Leute und machen das alles – und trotzdem ist es ein steter Kampf“, sagte Petra Sklorz: „Und warum nur hat die Politik so spät auf die seit Jahren absehbaren Entwicklungen reagiert?“
Die Städte und Gemeinden hätten bezüglich eines bundesweiten Themas wie einer Reform der Pflegeversicherung leider wenig Einfluss, dafür aber oft die finanziellen zu Folgen tragen – nämlich Sozialhilfe-Aufwendungen für Pflegebedürftige, die die Leistungen aus eigenen Mitteln nicht bezahlen können, sagte Martin Günthner, Dezernent für Soziales, Arbeit, Jugend und Familie beim Magistrat Bremerhaven: „Allein im vergangenen Jahr 9 Millionen Euro.“ Es sei an der Zeit, „das System vom Kopf auf die Füße zu stellen“.
Andrea Toense betonte, in Bremerhaven werde aktuell Vieles angestoßen und auf den Weg gebracht. Auch verwies die Stadträtin für Gesundheit, Klima und Umwelt auf die aus Bundes- und Landesmitteln finanzierte neue gemeinsame Pflegeschule von AWO, Klinikum Reinkenheide und apm: „Wir müssen und werden das mit aller Kraft und Energie angehen. Die Gemengelage in der Pflege muss von allen Akteuren aufgeräumt und ganzheitlich angegangen werden. Bisher wurde immer viel zu kurzfristig gedacht.“